Schicksale von ehemaligen Bensheimer Familien gehen unter die Haut

IMG 1867So viel los ist selten in der engen Postgasse: Deutlich mehr als 50 Personen hatten sich vor dem Haus mit der Nummer 7 versammelt, ein Fernsehteam war mit Kameras vor Ort, dazu ein Fahrzeug des Bauhofservices – und der rote Lieferwagen von Gunter Demnig, der international durch die Verlegung von „Stolpersteinen“ zum Gedenken an Opfer des Nationalsozialismus bekannt geworden ist und auch in Bensheim und in der Region schon häufig tätig war.

Angeregt durch Recherchen der „Werkstatt Geschichte“, eines Kurses der 10. Klassen, hat das Goethe-Gymnasium beschlossen, anlässlich seines 150-jährigen Bestehens Stolpersteine für alle ehemaligen Schülerinnen und deren Familien verlegen zu lassen, die Opfer des Nationalsozialismus geworden waren.

Schon seit 2013 gärte der Gedanke an eine solche Aktion, 2016 wurden auf Veranlassung der Schule erste Stolpersteine für eine einzelne jüdische Familie verlegt, doch erst mit dem Schuljubiläum kam auf Initiative von Florian Schreiber, der die „Werkstatt Geschichte“ leitet, der Gedanke, so etwas für wirklich alle dieser Schülerinnen zu machen. Möglich und finanzierbar wurde das aber nur, weil Schüler und Lehrer und viele weitere Mitglieder der Schulgemeinde entsprechende Patenschaften übernommen haben.

Familie Löb aus der Postgasse

Etwa 25 ehemaliger Schülerinnen und deren Familien, insgesamt etwa 70 Personen, kann so durch im Pflaster verlegte Gedenksteine gedacht werden. Den Auftakt im Jubiläumsjahr machte am Mittwochmorgen die Verlegung in Bensheim, am Nachmittag und am Donnerstag sollten weitere Stätten in Lampertheim und Bürstadt und in Alsbach-Hähnlein hinzukommen. Bis nach Darmstadt erstreckt sich die Aktion, die im Laufe des Jahres, vielleicht aber auch erst im nächsten Jahr abgeschlossen werden soll.

In der Bensheimer Postgasse bezeichnete es Jürgen Mescher, Schulleiter des Goethe-Gymnasiums, als erfreulich, dass die Schüler sich um das Thema gekümmert hätten. Zugleich mache es ihn traurig, dass das so lang gedauert habe und nicht schon zum 100., sondern eben nun erst zum 150. Jubiläum geschehen sei. In Vertretung der Bürgermeisterin begrüßte die stellvertretende Stadtverordnetenvorsteherin Sarah Hoeller die Initiative der Schülerinnen und Schüler: „Auf den täglichen Wegen rückt das Unrecht in den Fokus.“

„Wo kluge und empathische junge Menschen sind, ist unsere Demokratie in guten Händen“, sagte Hoeller. Schülerinnen berichteten über den Beginn der Recherchen im Schularchiv, wo die jüdischen Schülerinnen in den Unterlagen plötzlich nicht mehr auftauchten. Inzwischen wurde eine Menge herausgefunden, auch durch persönliche Kontakte in die USA zu den Nachkommen der ehemaligen Schülerinnen. Etwa über das Schicksal der Familie von Ruth Löb, geboren im Jahr 1916, die in der Postgasse 7 lebte. Der Vater betrieb ein Möbelgeschäft in Bensheim. Er wurde 1938 wochenlang im KZ Buchenwald inhaftiert.

Danach zogen die Eltern nach Frankfurt, vermutlich, weil sie sich dort sicherer fühlten. Sie wurden 1941 deportiert und ermordet. Auch Ruth Löb hatte Bensheim verlassen und war rechtzeitig in die USA geflohen, wo sie eine große Familie gründete. Ihr Enkel Howard Glantz war der Veranstaltung online zugeschaltet und trug ein hebräisches Gebet und dessen englische Übersetzung vor – ein sehr bewegender Moment. Man dürfe die Geschichte der Familie Löb nicht vergessen, erklärte eine Schülerin, denn all das sei vor gar nicht langer Zeit passiert und könne jederzeit wieder passieren.

Familie Marx hat alles verloren

Im Anschluss zog die Gruppe zur Darmstädter Straße, wo Gunter Demnig vor dem Haus Nummer 34 schon bei der Arbeit war. Hier erinnerte Klaus Holl, ehemaliger Schulleiter des Goethe-Gymnasiums, an Lotte Marx (geboren 1922) und ihre Familie, die bis 1937 in dem Haus wohnte und einen florierenden Ledergroßhandel betrieb. Alle überlebten den Holocaust, doch verloren sie alles, was ihr Leben ausgemacht hatte. Durch Kontakte der Schülerinnen und Schüler zur Tochter von Lotte Marx in den USA konnte das Lebensbild der ehemaligen Mitschülerin nachgezeichnet werden, die von 1933 bis 1936 an der Schule war.

Bei ihrer Einschulung, darauf machte Holl aufmerksam, gab es drei weitere jüdische Schülerinnen an der damals als „Höhere-Töchter-Schule“ firmierenden Institution – zehn Jahre zuvor waren es noch 14 gewesen. 1936 war Lotte dann das einzige jüdische Kind an der Schule, bevor auch sie vor der ständigen Diskriminierung und Bedrohung zunächst in ein Internat in der Schweiz auswich und dann 1937 mit der Familie in die USA nach Los Angeles entkam – mit wenigen Möbeln und Erinnerungsstücken und lediglich 10 Reichsmark im Gegenwert von etwa 50 Euro in der Tasche.

Ohne ein Wort Englisch in Amerika

Die zuvor wohlhabende Familie musste alles zurücklassen und stand in den USA vor dem Nichts. Ohne ein Wort Englisch zu können kam Lotte, die in Bensheim nur Französisch gelernt hatte, auf die Highschool, schaffte den Abschluss und studierte. Es gelang den Eltern in Los Angeles, wieder ein Ledergeschäft zu eröffnen, das bis in die 1970er Jahre existierte. Alle Familienmitglieder erreichten ein hohes Alter. Lotte, die als besondere Persönlichkeit beschrieben wurde, besuchte mit ihren Nachkommen zweimal Deutschland und ihr ehemaliges Elternhaus, wo sie freundlich empfangen wurde. Sie starb im Jahr 2017. EVA BAMBACH