Es war eine Veranstaltung in Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus. Das Überleben brachte ein lebenslanges Trauma mit sich.
Das Wort Gedenkfeier, das nicht selten für die Momente des Innehaltens im Erinnern an die Pogromnacht des Jahres 1938 Verwendung findet und das auch über einem solchen Miteinander in Bensheim am Sonntagabend stand, wollte Stina Heidemann nicht übernehmen. „Ich habe mich gefragt, inwiefern man Gedenken feiern kann, denn das Geschehene ist für mich kein Grund zum Feiern“, sagte sie eingangs einer Ansprache, in der die junge Frau das Leben und Leiden der Bensheimer Jüdin Edda Jonas den Zuhörern in einer unter die Haut gehenden Betrachtung nahebrachte.
Ganz am Ende dieser Ansprache kam Stina Heidemann dann nochmals auf ihre sich selbst zu Beginn gestellte Frage nach der Gedenkfeier zurück: „Ich finde, wir feiern heute nicht das Gedenken an all jene Menschen, die Opfer des Terrors der NS-Diktatur wurden, sondern wir gedenken ihrer feierlich und betrachten sie mit all ihrer Würde und dem Respekt, den es verlangt, hinter die Zahl der Opfer zu schauen.“
Das Leid der Juden war nach Ende des Krieges nicht vorüber
Eben das hat Stina Heidemann getan. Sie hat den Zahlen, den Opfern, ein Gesicht gegeben, sehr persönlich im Nachzeichnen des Schicksals einer Bensheimer Mitbürgerin, gegründet auf einer tief gehenden Recherche, gefasst in Worte, die eigene Betroffenheit spürbar werden ließen und denen sich niemand im Moment des Hörens entziehen konnte. Und sie machte deutlich, dass das Leid der Juden nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorüber war. „Überleben heißt nicht, dem Schicksal zu entkommen“, war die Rede betitelt, womit die Schülerin die Stunde nicht nur zum Gedenken an die ermordeten Juden, sondern auch zum Gedenken des Schicksals der Überlebenden machte.
Stina Heidemann ist Schülerin des Bensheimer Goethe-Gymnasiums, mit ihr gestalteten weitere Schülerinnen und Schüler der Schule die Gedenkstunde. Auch zum Abschluss, am Platz der ehemaligen Bensheimer Synagoge, dem heutigen Bendheim-Platz, wo die Jugendlichen in Begleitung des Saxophonisten Rainer Michels Opfer- und Zeugenberichte vom Niederbrennen der Bensheimer Synagoge, vom Zerstören jüdischen Eigentums und dem Zerstören jüdischen Lebens, von Deportation und Mord an Jüdinnen und Juden berichteten.
Dem Leben der Überlenden der NS-Zeit Edda Jonas angenommen
Zuvor, beim Gedenken im Forum der Liebfrauenschule, waren es zudem die musikalischen Momente, die von Schülerinnen und Schülern des Goethe-Gymnasiums gestaltet wurden. Erstmals war der Abend in ein neues Konzept gekleidet. In Neuerung des Bisherigen war die Veranstaltung vom Auerbacher Synagogenverein, an dieser Stelle in Nachfolge der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger, in Zusammenarbeit mit der Stadt organisiert worden. Und erstmals war die junge Generation zentral eingebunden. Die Jugendlichen zeigten, wie Schule dazu beitragen kann, dass Geschichte eben nicht nur Unterrichtsstoff ist, den es abzuarbeiten gilt, sondern, dass Unterricht, dass Schule mit all ihren Rahmenprojekten, junge Menschen prägen und in ihrer Wahrnehmung, ihrem Handeln, ihrem Wertekanon prägen kann.
Stina Heidemann hat sich so in ihrer Betrachtung dem Leben von Edda Jonas angenommen, Opfer und Überlebende der NS-Zeit, wobei das Überleben ein lebenslanges Trauma mit sich brachte. Geboren wurde sie als Edda Rosenfelder in Bensheim, ging dort auf die Höhere Töchterschule, heute das Goethe-Gymnasium, sie heiratete Doktor Max Jonas, ein Rechtsanwalt, lebte mit ihm in Essen, gemeinsam hatten sie zwei Söhne, so Stina Heidemann. Die Schülerin zeichnete das Leben von Edda Jonas nach. Das heißt Angst und Leid unter dem NS-Regime, Flucht innerhalb Deutschlands, ihre Söhne schickte sie nach Großbritannien, ihre Eltern wurden im Konzentrationslager ermordet, ihr Mann erkrankte, starb im KZ.
Stolpersteine, die eindrückliche Rede und die Recherche des Goethe-Gymnasiums erinnern an ihr Schicksal
Sie überlebte, da sie ihren Selbstmord vortäuschte und in dem Theaterdirektor und Schauspieler Ferdinand Julius, genannt Ferry Werner, einen Helfer fand. Als Eva Wagner durchlebte sie den Krieg. Es war der Name von Ferry Werners Stieftochter, die unter gleichem Namen in der Schweiz lebte. Edda Jonas durchlebte die Kriegsjahre in steter Furcht vor dem Tod, der Ermordung. Ihr früheres Leben, ihre Identität, ihr Familie, alles hatte sie verloren, resümierte Stina Heidemann. Einzige Vertrauensperson war Ferry Werner.
Nach dem Ende des Krieges blieben der Schreck, blieb das Trauma, denn, so Stina Heidemann, „Deutschland und die Gesellschaft hatten sich nicht einfach über Nacht verändert“. Finanzielle und materielle Not, mentales und körperliches Leid begleitet sie, erinnerte die Goethe-Schülerin. Mit Ferry Werner lebte sie in Bensheim, aber „die Last der Verfolgung und Unterdrückung blieb.“ Heute erinnern Stolpersteine an ihr Schicksal – und die Recherche des Goethe-Gymnasiums sowie die eindrückliche Rede von Stina Heidemann.
„Nie wieder ist jetzt“ darf nicht zur leeren Floskel verkommen
Eingebettet waren die Worte nicht nur in die musikalische Umrahmung ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler, sondern auch in die Begrüßung durch Ursula Schlosser, Vorsitzende des Auerbacher Synagogenvereins, und in eine Rede von Bensheims Bürgermeisterin Christine Klein. Ursula Schlosser dankte denen, die das Gedenken in der Vergangenheit gestaltet haben und denen, die dem Abend nunmehr in neuer Form Fortsetzung geben. Zugleich blickte sie auf den 9. und 10. November 1938 in Bensheim. „Auch in Bensheim plünderten und brandschatzten die Nationalsozialisten unterstützt durch die Bevölkerung“, erinnerte sie und skizzierte das schreckliche Geschehen, dem die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ausgesetzt waren. „Es ist wichtig, dass wir an diese Menschen denken, ob sie von den Nazis ermordet wurden oder überlebt haben.“ Zugleich lenkte sie den Blick auf das Heute. „Was wir sehen, raubt uns die Zuversicht“, so Schlosser. Wieder Schrecken, wieder Angst, wieder leben jüdische Mitbürger in Sorge und Furcht. Ursula Schlosser mahnte: „Lassen Sie uns alle aufpassen, dass das ,Nie wieder ist jetzt‘ nicht zur leeren Floskel verkommt.“
Ihr Vertrauen gründet Christine Klein auch in „das Engagement vieler junger Menschen in unserem Land“. Das Goethe-Gymnasium kann hier mit seiner Arbeit als exemplarisch gesehen werden. So auch die jüngste Arbeit von Schülerinnen und Schülern in Begleitung von Lehrern der Geschwister-Scholl-Schule zur Geschichte der früheren Besitzer des heutigen Kaufhauses Ganz. Ein Projekt, an dessen Abschluss eine Buchveröffentlichung stand. An die Adresse der jungen Leute sagte Christine Klein: „Ihr beweist damit, dass auch die junge, nachfolgende Generation ein Gespür hat, wie wichtig es ist, dem Vergessen entgegenzuwirken und die Erinnerung wach zu halten.“ Und im Gedenken am Sonntagabend verbanden sich die Generationen.
Ein Gedanke, den Bürgermeisterin Klein aufgriff, als sie sagte: „Wir können es uns nicht leisten zu warten, bis das Wiederstarken des Antisemitismus bis in den hintersten Winkel unseres demokratischen Gemeinwesens zweifelsfrei belegt ist. Der richtige Zeitpunkt, um Antisemitismus in unserer Gesellschaft entschieden entgegenzutreten, liegt nicht irgendwo in der Zukunft. Der richtige Zeitpunkt liegt im Hier und Heute!“
Christine Klein gründet Vertrauen in "das Engagement vieler junger Menschen"
Zuvor hatte auch die Bürgermeisterin die Geschehnisse des Novembers 1938 in Bensheim skizziert. „Vor 86 Jahren tobte auch hier bei uns in Bensheim der antisemitische Mob.“ Und sie unterstrich: „Mit Veranstaltungen wie der heutigen arbeiten wir Demokratinnen und Demokraten gegen Vergessen, gegen Gewöhnung und für Wachsamkeit. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die meines Erachtens wichtiger ist denn je: Denn die Bedrohung durch Antisemitismus nimmt in Deutschland und weltweit zu.“ Geschehnisse und Zahlen zeigten dies. „Doch ich glaube nach wir vor fest daran, dass unsere politische Kultur mit Werten wie Toleranz, Integration und friedlichem Miteinander dagegen einen verlässlichen Schutz bietet.“ BA, 12.11.2024